Die Nullgasse

Die Nullgasse von Werner Asam ist eine kleine literarische Kostprobe und eine Hommage an einen großartigen Kollegen.


Vorsichtig und behutsam betritt Alfred die Hinterbühne seines Theaters. Sein Theater – die Bühne – wohlige Wärme – Halbdunkel – Geborgenheit.

Wie immer ist er bereits in Kostüm und Maske. Wie immer ist er viel zu früh.  Noch ist die Bühne leer. Vor dem schwarzen Vorhang, der die Hinterbühne von der Hauptbühne trennt, steht die Dekoration des heutigen Abends. Ein bairisches Spectaculum, „Die Lokalbahn“ von Ludwig Thoma. Ersatzweise, denn eigentlich sollte der Brandner Kaspar und das ewige Leben, von Kobell in der Fassung von Kurt Wilhelm, gespielt werden. Dass dieses Stück einer der größten bairischen Theatererfolge werden sollte, wusste man damals noch nicht. Damals – im Herbst, genau genommen am 3. Oktober des Jahres 1977.

Der Brandner Kaspar war krank, das heißt sein Darsteller der Fritz. Bei Dreharbeiten ist er in der Maske mit Verdacht auf Herzinfarkt zusammen gebrochen.

Alfred genießt es, der Erste – der erste Schauspieler zu sein. Der Erste in der Maske, der Erste in seiner Garderobe, der Erste auf „seiner“ Bühne. Er liebt diesen Zustand, diese Stunde vor einer Vorstellung. Es ist als würde dieses Haus langsam erwachen, sich recken und dehnen. Eine Textstelle aus Brechts Puntila fällt ihm ein: …wenn am frühen Morgen die jungen Frauen mit sündigen Augen aus ihren Häusern kommen und ihre Wäsche am Brunnen  waschen… Diesem Haus gehört seine Liebe und er glaubt, es liebt ihn. Nicht laut und bekennend, eher still und ein wenig verschämt. Nicht den großen Erfolg schenkt es ihm, aber den kleinen Beifall, das Raunen wenn ihm eine Passage besonders gut gelingt oder ein quittierendes  glucksendes kicherndes Auflachen. Sein Dank, eine winzige Verbeugung, kaum wahrnehmbar, ein kleiner Lidschlag mit nur einem Auge, jenem natürlich, welches der vierten Wand zugewendet und dessen Wange im Gesicht leicht brannte.

Die vierte Wand – sein Mentor – ein geachteter Kammersänger – bezeichnete die zum Publikum offene Seite der Bühne, als vierte Wand. Kein Schauspieler, der diesen Titel verdiente, wendet sich direkt an sein Publikum, außer Operettenbuffos und Rampensäue. Dennoch soll die dem Publikum zugewandte Gesichtshälfte leicht brennen, denn sträflich sei es das Publikum glauben zu lassen es existiere nicht.

Eigentlich wollte er Sänger werden, doch dann traf er auf Valentin – auf Karl Valentin, der ihn ermunterte, es als Schauspieler zu versuchen. Und das obwohl er das Lied von der Linie Acht fast so gut sang wie der berühmte Weiß Ferdl. Aber eben, halt nur fast! Manchmal kamen aus dem Publikum erstaunte Rufe: „Der schaugt ja aus wie der Weiß Ferdl.“  Eben. der schaut aus wie der Weiß Ferdl! Es dauert halt lang, bis die Leut einen kennen.

Wie immer steht sein Stuhl in der Nullgasse, so wird am Theater jener Platz genannt, von dem aus man das Geschehen auf der Bühne beobachten kann ohne gesehen zu werden und ohne die agierenden Künstler zu stören.

Auf Zehenspitzen, ganz vorsichtig und fast tänzerisch, in kleinen Schritten, die ihn schier schweben lassen, überquert er die Hinterbühne. Kein Geräusch von sich zu geben, und dennoch aufzutreten, aufzutreten, was nicht heißen darf aufzuschleichen, oder gar rücksichtslos aufzutrampeln, wie manch einer der Jungschauspieler es praktizierte, die ihre Rollen bereits in der Garderobe anfingen zu spielen und denen dann meist auf der Bühne die Luft ausging – nein, schweben, hoch erhobenen Hauptes, noch nicht in der Rolle, die man zu spielen gedenkt, sondern als jemand, der in wenigen Minuten diese wunderbare Metamorphose vom Schauspieler zu  einer – zu seiner – Figur vollziehen wird. Eben diese Verwandlung findet statt in der Nullgasse und erst in der Nullgasse.

Schweben, auf Zehenspitzen,  eine alte Gewohnheit über die er sich nicht mehr Rechenschaft ablegt, die sich nach 40 Jahren Bühne ritualisiert hat, die einstmals den praktischen Grund hatte leise zu seinem Auftritt zu gelangen während die Aufführung lief. Dieses Schweben wurde bei ihm symbolisch längst zu einer tiefen Verbeugung, einer respektvollen Hommage, vor diesem ehrwürdigen Haus, vor dieser Bühne, auf der vor ihm schon so viele großartige Schauspieler  ihr Publikum zum Lachen oder Weinen, immer aber zu Beifallsstürmen brachten.

Er lächelt als er die rote Nelke bemerkt, die auf der Sitzfläche seines Stuhles liegt. Dekoriert mit ein wenig Zittergras und einer Schleife, an die, ein zusammengefaltetes Blatt gebunden ist, ein Notizzettel, ein profaner Zettel, wie ihn Karl, der Inspizient, für Mitteilungen an seine Schauspieler verwendet.

„Alles Gute zum 77igsten vom Karli.“ Der Karl vergaß keinen Geburtstag. Alfred schaut hinüber zum Inspizientenpult und als ob er es spürte dreht er sich halb zu ihm und nickt lächelnd. „Ist zwar schon vier Tage her aber es gilt noch!“ flüsterte Karl. Alfred nickte, er freut sich über den Gruß, „A rote Nelken?“ will er wissen. „Freile, was sonst? Mir zwoa alten Sozis“, wieder nickt Karl anerkennend und raunzt mit seiner sonoren Inspizientenstimme in das Mikrofon der Sprechanlage, „Noch zehn Minuten bis zur Vorstellung!“

Der Theatergong lockt das Publikum in den Zuscherraum. Eine Erregung befällt Alfred, ein jähes Aufbrennen ein Schlag der durch den ganzen Körper geht und nur ganz allmählich verebbt. Das Publikum – man sieht es nicht, doch man spürt es. Es quillt, breitet sich aus, nimmt Besitz. Erwartung, Freude, die alte Angst bestehen zu müssen, wie früher als Kind, ein Gedicht aufsagen zu müssen, die Schule und später die Liebe -  die Liebe ja! Es hat sich nichts geändert, es ist wie beim ersten Mal. Auch einer der Gründe warum er diesen Beruf so liebt. Immer wieder ein erstes Mal. Eine erste Vorstellung, ein erstes Mal auf einer Bühne, ein erstes Mal in einer Rolle und immer ein erstes Publikum. Denn jeder Abend ist neu. Jedes Publikum ist neu und immer wieder gilt es dieses Publikum zu verzaubern, eine Geschichte zu erzählen um dann wohlverdienten Beifall zu genießen. Applaus – ein Rausch? Eine Sucht? Wohl aber ein glücklicher Augenblick, der einen alles vergessen lässt, eine rosarote Wolke, auf der man sitzt und die Füße baumeln lässt.

Nun wird es lebendig auf der Bühne. Die Kollegen des ersten Aktes nehmen von ihr Besitz. Gedämpfte Unterhaltungen, jeder geht mit seiner Nervosität, mit seinem Lampenfieber, anders um. Da gibt es den misstrauisch Ängstlichen, der zum zigsten Male den Sitz seines Kostüms überprüft, oder das Vorhandensein seiner Requisiten, den Jovialen, lärmenden, sich durch das Erzählen von Witzen abreagierenden, sich vor Lachen krümmenden, an seinen Kollegen festklammernden Komiker, der niemanden komisch findet, außer sich selbst, den Jungstar, der immer unaufgefordert von seinem Drehtag als Wasserleiche, bei irgendeinem Krimi, erzählt.

„Ich hab gehört, du übernimmst die Rolle vom Fritz bei der Bavaria. Wie gehts ihm denn? Da war was mit dem Herzen, nicht?“ Mitfühlend quetscht Toni seine rechte Schulter. „Die sind ja gnadenlos, beim Film. Die besetzen dich einfach um. Die warten nicht einen einzigen Tag. Tja, das ist halt der Beruf. Ich find es toll, dass man dich jetzt diese Rolle spielen lässt. Ich glaub morgen hast du deinen ersten Drehtag?“ Alfred kann nur nicken. Er bringt kein Wort heraus, sein Mund ist trocken, er fühlt sich ertappt, vermutet eine lauernde Häme hinter der Freundlichkeit.

„So, ich muss jetzt – wünsch dir für morgen an schönen Drehtag.“ Toni, der Staatsschauspieler, dieser großartige grandiose…!

Der Theatergong unterbricht, tönt ein letztes Mal, die Bühne dunkelt ein, der Vorhang geht auf, das Spiel beginnt. Routinierte Lust, ein dankbares Publikum, jeder Lacher kommt an der richtigen Stelle. Vorsichtig öffnet Alfred seine Ledermappe und entnimmt ihr eine Thermoskanne mit Tee. Dieser trockene Mund. Er gießt den Schraubverschluss voll und trinkt in kleinen Schlucken. Auf sein Brotzeitbrot verzichtet er heute. Ihm ist nicht nach Essen. Geräuschlos stellt er die Flasche zurück. Kein Geräusch machen – sein Brot hat er in ein Tuch gewickelt, Papier wäre furchtbar, es raschelt.

Eigentlich hätte er in diesem Film eine kleine Rolle spielen sollen, doch dann passierte das Malheur mit Fritz, in der Maske, während er geschminkt wurde, er erzählte einen Witz, griff er sich an die Brust und rutschte vom Stuhl. Natürlich Notarzt und Klinik. Gott sei Dank Entwarnung, doch er muss wohl eine Weile dort bleiben.

Da hat er schon recht der Toni, die sind gnadenlos beim Film. Die warten nicht. Wenn dieser Apparat nur einen Tag steht, dieser Moloch – dieses gefräßige Tier – der Ausfall kostet. Schon am nächsten Tag fragte man ihn, ob er bereit sei die Rolle zu übernehmen. Diese Rolle – dem Fritz seine Rolle…!

Noch nie bot man ihm eine so große Rolle an, immer war er der Farbtupfer, der Stichwortgeber, einer der freundlich nickt wenn ein anderer viel Text hat, einer der immer spielt ich höre zu!

Und morgen war es soweit, sieben Uhr Maske und Garderobe in der Bavaria – Bavaria – Filmgesellschaft, es zergeht einem im Mund, dieses Wort, diese Wortmelodie, Bavaria – Filmgesellschaft. Wie schnell sich so was in der Branche rum spricht, das ganze Theater weiß es, der Pförtner weiß es, natürlich weiß der es, deswegen hat auch er auch so überschwänglich gegrüßt und der Toni?

Noch nie hat Toni mit ihm mehr als „Alfred wie gehts?“ gewechselt.

Der Fritz, einer der ganz, ganz Großen – das schlechte Gewissen beutelte ihn, seine Freude war das Leid seines Kollegen, seine Chance nur aus dieser Not geboren.

Eilig jemanden so rasch zu besetzen, er war ja bereits der Produktion verpflichtet, mit einer winzigen Rolle zwar, aber doch verfügbar. Er machte sich nichts vor über das Warum. Er stand auf, schüttelte sich, scheuchte unpassende Gedanken, strich seinen schwarzen Gehrock glatt und betrat die Bühne als Bürger der Stadt Dornach.

Am frühen Morgen des anderen Tages starb Alfred während des Schminkens in der Maske der Bavaria-Filmstudios, während er, von Kollegen befragt, vorspielte, wie vor Tagen Fritz, sich an die Brust greifend, langsam aus dem Stuhl rutschte. Der Herzinfarkt setzte seinem Leben ein Ende und Fritz übernahm wieder, nachdem man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte.

Wenn es den wunderbaren Himmel gibt, den uns Kurt Wilhelm in seinem Brandner beschert hat, spielen sie sicher miteinander Theater, der Alfred, der Fritz, der Toni, der Gustl, der Hans und der Beppo und alle anderen großartigen bairischen Volksschauspieler, die hier zu nennen lange dauern würde.